6. Oktober 2022

Schriftliche Anfrage 19/11776: Antisemitische Vorfälle aus zivilgesellschaftlicher Perspektive im Jahr 2021

Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Orkan Özdemir (SPD), Gollaleh Ahmadi (GRÜNE), Cornelia Seibeld (CDU), Anne Helm (LINKE) und Stefan Förster (FDP)

Vom 05. Mai 2022 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 05. Mai 2022)

Antwort vom 17. Mai 2022 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 20. Mai 2022)

Link: https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/19/SchrAnfr/S19-11776.pdf


Antwort auf die Schriftliche Anfrage Nr. 19/11776 vom 05. Mai 2022 über

Antisemitische Vorfälle aus zivilgesellschaftlicher Perspektive im Jahr 2021

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Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt:


  1. Wie viele antisemitische Vorfälle (strafbare und nicht strafbare) sind der durch die Senatsjustizverwaltunggeförderten Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin zwischen dem 01.01.2021 -31.12.2021 bekannt geworden? (Bitte darstellen nach Art des Vorfalls, bezirklicher Verteilung, inhaltlichen Ausprägungen)

Zu 1.:

Die Fallzahlen zu antisemitischen Vorfällen, die von RIAS Berlin für das Jahr erhoben worden sind, befinden sich in den Tabellen 1-3 der Anlage. Sie sind aufgeschlüsselt nach Vorfallsarten, bezirklichen Verteilungen sowie den inhaltlichen Ausprägungen von Antisemitismus.

Nachfolgend einige Ausführungen zur Erfassungsgrundlage:

RIAS Berlin unterscheidet je nach Art und Schwere des Vorfalls zwischen sechs verschiedenen Vorfalltypen. Diese Typen wurden ursprünglich vom Community Security Trust (CST) aus Großbritannien entwickelt und von RIAS Berlin für den deutschen Kontext angepasst. Als extreme Gewalt gelten physische Angriffe oder Anschläge, die den Verlust von Menschenleben zur Folge haben können oder schwere Körperverletzungen darstellen. Als Angriffe werden Vorfälle betrachtet, bei denen Personen körperlich angegriffen werden, ohne dass dies lebensbedrohliche oder schwerwiegende körperliche Schädigungen nach sich zieht. Diese Kategorie beinhaltet auch den bloßen Versuch eines physischen Angriffs. Unter einer gezielten Sachbeschädigung wird die Beschädigung oder das Beschmieren jüdischen Eigentums mit antisemitischen Symbolen, Plakaten oder Aufklebern verstanden Dazu zählt auch die Beschädigung oder Beschmutzung von Erinnerungszeichen und -orten für die Opfer der Schoa, also z.B. von Gedenkstätten, Gedenktafeln, Stolpersteinen oder von Geschäftsstellen entsprechender Organisationen. Als Bedrohung gilt jegliche eindeutige und direkt an eine Person oder Institution adressierte schriftliche oder mündliche Androhung von Gewalt. Als verletzendes Verhalten werden sämtliche antisemitische Äußerungen gegenüber jüdischen oder israelischen Personen oder Institutionen gefasst, aber auch antisemitische Beschimpfungen oder Kommentare gegenüber anderen Personen und Institutionen. Dies gilt auch für online getätigte antisemitische Äußerungen, sofern diese direkt an eine bestimmte Person oder Institution adressiert sind. Als verletzendes Verhalten werden ferner antisemitische Beschädigungen oder das Beschmieren nichtjüdischen Eigentums gewertet. In der Kategorie Massenzuschrift werden schließlich antisemitische Zuschriften erfasst, die sich an einen größeren Kreis von Personen richten – meistens handelt es sich hier um Online-Vorfälle.

Inhaltlich unterscheidet RIAS Berlin bei der Erfassung antisemitischer Vorfälle zwischen fünf verschiedenen Erscheinungsformen von Antisemitismus. Im antisemitischen Othering werden Jüdinnen und Juden als fremd oder nicht dazugehörig zur jeweiligen Mehrheitsgesellschaft beschrieben. Das ist beispielsweise der Fall, wenn jüdische oder nicht-jüdische Institutionen oder Personen als „Jude“ beschimpft oder als jüdisch markiert werden. Im antijudaistischen Antisemitismus werden religiös begründete Stereotype verbreitet, etwa der Vorwurf, Jüdinnen und Juden seien für den Tod Jesu verantwortlich. Wird Jüdinnen und Juden eine besondere politische oder ökonomische Macht zugeschrieben, etwa im Rahmen von Verschwörungsmythen, so wird dies dem modernen Antisemitismus zugerechnet. Post-Schoa-Antisemitismus bezieht sich auf den Umgang mit den nationalsozialistischen Massenverbrechen, beispielsweise wenn die Erinnerung an die NS-Verbrechen abgelehnt wird oder diese bagatellisiert werden. Israelbezogener Antisemitismus liegt vor, wenn sich antisemitische Aussagen gegen den jüdischen Staat Israel richten, etwa indem diesem die Legitimität abgesprochen wird. In der Praxis lässt sich ein antisemitischer Vorfall häufig mehreren Erscheinungsformen zuordnen. Aufgrund dieser Mehrfachzuordnungen ist die Anzahl der festgestellten Erscheinungsformen in der Regel höher als die Zahl der antisemitischen Vorfälle.

RIAS Berlin klassifiziert den politisch-weltanschaulichen Hintergrund der Verantwortlichen für antisemitische Vorfälle. Dieser ergibt sich entweder aus der Selbstbezeichnung der Person(en) oder Organisation(en) oder aus verwendeten Stereotypen, die sich eindeutig einem bestimmten politischen Spektrum zuordnen lassen. In vielen Fällen lässt sich jedoch auf der Grundlage derjenigen Informationen, die dem Projekt vorliegen, der politische Hintergrund nicht eindeutig bestimmen. Grundsätzlich unterscheidet RIAS Berlin zwischen den folgenden sieben politischen Spektren: rechtsextrem/rechtspopulistisch, links/antiimperialistisch, christlich/christlicher Fundamentalismus, islamisch/islamistisch, verschwörungsideologisch, antiisraelischer Aktivismus, politische Mitte.

Die von RIAS Berlin entwickelten Arbeitsweisen und Meldestrukturen innerhalb der jüdischen und nicht-jüdischen Zivilgesellschaft Berlins sind spätestens seit dem Jahr 2017 relativ konstant. Antisemitische Vorfälle und Straftaten werden dem Projekt auf unterschiedlichen Wegen bekannt, dabei machen Meldungen über die mehrsprachige Meldeseite www.report-antisemitism.de mit Abstand den größten Anteil aus. Des Weiteren erreichen das Projekt Informationen über antisemitische Vorfälle und Straftaten über EMail, institutionalisierte Formen der Übermittlung, anlassbezogene Gespräche mit jüdischen und nicht-jüdischen Organisationen, Presseberichte und Polizeimeldungen. Auch im Rahmen eines pro-aktiven Monitorings von Versammlungen im öffentlichen Raum durch das Projekt und Partnerorganisationen werden RIAS Berlin antisemitische Vorfälle bekannt.


  1. Inwieweit findet ein Abgleich zwischen den zivilgesellschaftlich bekannt gewordenen antisemitischen Vorfällen und jenen durch den Kriminalpolizeilichen Meldedienst bekannt gewordenen antisemitischen Straftaten in der Statistik für politisch motivierte Kriminalität statt?
  2. Inwiefern ist es im Interesse der Senatsinnenverwaltung, dass ein solcher Abgleich stattfindet, und welche konkreten Schritte plant die Senatsverwaltung, um diesen weiterhin zu ermöglichen?

Zu 2. und 3.:

Anders als in den Jahren 2016 – 2020 wurden dem Projekt für das Jahr 2021 die Daten des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes zur politisch motivierten Kriminalität des Berliner Landeskriminalamts nicht zur Verfügung gestellt.

Die Senatsverwaltung für Inneres, Digitalisierung und Sport hat zwar weiterhin ein hohes Interesse daran, dass die Polizei Berlin und zivilgesellschaftliche Organisationen strafrechtlich die Erkenntnisse abgleichen, da dadurch unter anderem ein wesentlicher Beitrag zur Erhellung des Dunkelfeldes geleistet wird. Aus der staatsanwaltschaftlichen Sachleitungsfunktion in Strafermittlungsverfahren ergibt sich allerdings hinsichtlich der Beurteilung, welche Daten in welcher Form abgeglichen werden dürfen, eine Sachzuständigkeit der Staatsanwaltschaft Berlin sowie der Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung als Fachaufsicht über die Berliner Strafverfolgungsbehörden. Gemäß Bewertung des Datenschutzbeauftragten der Berliner Strafverfolgungsbehörden bei der Generalstaatsanwaltschaft Berlin ist unter Berücksichtigung des Grundrechtes der informationellen Selbstbestimmung der Betroffenen im Strafverfahren lediglich ein Abgleich statistischer Werte zulässig. Ein entsprechendes Schreiben ging an die Polizei Berlin sowie an Nichtregierungsorganisationen – unter anderem auch an die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin.


Berlin, den 17. Mai 2022

In Vertretung

Torsten Akmann

Senatsverwaltung für Inneres, Digitalisierung und Sport